Kaum eine Jahreszahl ist derzeit von größerer Bedeutung. In Buchhandlungen, in Magazinen, in Zeitungen, in den Medien – überall erinnert und feiert man das 50. Jubiläum der internationalen Studentenrevolution. Das Verständnis für bestimmte Werte, für die Sexualmoral, für Erziehungsstile sowie für künstlerische und kulturelle Ausdrucksformen war nach dem Jahr der Studentenunruhen nicht mehr dasselbe. Das Kunstmuseum Wolfsburg – in Zusammenarbeit mit dem Institut für Zeitgeschichte und Stadtpräsentation der Stadt Wolfsburg – widmet dem ehemaligen „Stern“-Fotoreporter Robert Lebeck fünfzig Jahre nach dem Protestjahr eine Ausstellung. Seine Aufnahmen, teils in Wolfsburg entstanden, sind für die Herausforderungen der heutigen Zeit von exemplarischer Bedeutung.
Zeitgeist der Protestepoche
„Das Jahr der Studentenunruhen fand ohne mich statt“, resümiert Robert Lebeck das Jahr 1968. Wo war er aber dann? Der Fotograf arbeitete in Florida an einer Mordsserie, als in Paris die Barrikaden brannten. Während der Studentendemonstration vor dem Springer-Hochhaus fotografierte er die Taufe von Hildegard Knefs Kind und er begleitete den Papst nach Bogotá, als die Russen in Prag einmarschierten. Und dennoch: Die Arbeiten des deutschen Fotografen und Bildjournalisten, die im Jahr 1968 in New York, Bogotá, Kassel, Belfast und auch in Wolfsburg aufgenommen wurden, spiegeln ausdrucksstark den Zeitgeist der Protestepoche wider. Robert Lebeck, geboren 1929, arbeitete von 1955 bis 1995 beim „Stern“. Die Zeitschrift war die damals auflagenstärkste Illustrierte Deutschlands und wurde auf den Fotografie-Autodidakten Lebeck aufmerksam, weil er schon in seinen ersten Jahren einen unverwechselbaren Reportage-Stil pflegte. Im Auftrag des „Stern“ wurde der gebürtige Berliner Anfang 1966 nach New York entsandt. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland Anfang 1968 fotografierte er von da an weltweit.
In acht Kapiteln durchläuft der Besucher die Ausstellung
Warum nun Lebeck in Wolfsburg? Das Kunstmuseum Wolfsburg macht als Haus der Gegenwart und Kulturgeschichte die Welt mit allen Sinnen erlebbar. Das Museum genießt internationale Anerkennung und ist bekannt für seine faszinierenden Projekte. Seine wandelbare Halle durfte bereits zahlreiche Exponate und Installationen beheimaten. Gerade der Spiegelsaal in der vergangenen Ausstellung „Never Ending Stories“ wurde für Jung und Alt zum Selfie-Magneten. In den bisherigen 130 Ausstellungen wurde neben zeitgenössischer Kunst immer wieder, besonders seit dem Amtsantritt von Museumsdirektor Dr. Ralf Beil, auch eminente Kulturgeschichte präsentiert. „Bei den Fotografien von Robert Lebeck handelt“ es sich um veritable Welterkenntnis“, so Ralf Beil. Diese seien nämlich so intensiv und pointiert, dass zwischen Aufbruch, Protest, Beharren und Scheitern der 1968er rückblickend ein Zusammenhang entsteht, der damals noch gar nicht zu begreifen war – wahrscheinlich nicht einmal vom Fotografen selbst. Die Ausstellung ist nach den von Robert Lebeck dokumentierten Ereignissen des Jahres 1968, vom Prager Frühling bis zum nordirischen Winter, chronologisch aufgebaut. In insgesamt acht Kapiteln begleitet der Besucher den Fotografen durch das Protestjahr und nimmt die Welt sowie die damaligen Ereignisse durch Kontaktbogen, Fotoabzüge und Fotoreportagen wahr. Die Bilder erzählen die Geschichte so aussagekräftig, dass auf große Texttafeln verzichtet wurde. Stattdessen gibt es viel Bild- und Videomaterial sowie die „Stern“-Ausgaben aus dem entsprechenden Jahr.
Fotografien in Lebensgröße
Im ersten Saal wird der Besucher zunächst von einer Toncollage empfangen. Zusammengefügt sind Ausschnitte einer Rede von Martin Luther King Jr., der Refrain „Yummy Yummy Yummy“ von Ohio Express, Ted Kennedys Trauerrede für seinen Bruder Robert, das Rattern amerikanischer Hubschrauber über Vietnam oder Ausschnitte aus Protestrufen der 1968er. Ausgewählte Fotografien wurden für den Eingang in die Ausstellung in Lebensgröße auf Wandtapeten gezogen. Eine davon zeigt eine Jugenddemonstration während einer Vereidigung von Bundeswehrsoldaten im VfL-Stadion am Elsterweg in Wolfsburg. Auf Treppen verteilt stehen Schülerinnen und Schüler, schreiend, klatschend, auffordernd. Einige von ihnen halten ein Plakat hoch, auf dem für „Frieden durch allseitige Abrüstung“ plädiert wird. Die Themen, die Robert Lebeck in seinen Fotografien erfasst, sind hochaktuell. Die bewaffneten Kinder einer amerikanischen Militärakademie erinnern an Bilder aus heutigen Kriegen und werfen angesichts der Massaker in US-amerikanischen Schulen die Frage nach härteren Waffengesetzen erneut auf. Die fülligen Frauen, die vor einer wohl gedeckten Kaffeetafel sitzen, erinnern einerseits an das Wirtschaftswunder im vergangenen Jahrhundert, andererseits machen sie auf den Überfluss in unserer westlichen Welt aufmerksam.
Er schaute dahin, wo die Welt nicht hinblickte
Die Auswahl von Lebecks Bildern, welche der „Stern“ veröffentlicht hat und wie diese teilweise verändert wurden, zeigt, dass „Fake News“ keine Erfindung des 21. Jahrhunderts sind. Robert Lebeck war nicht dabei, als in Paris die Barrikaden brannten oder als in Berlin Studenten vor dem Springer-Hochhaus demonstrierten. Aber rückblickend betrachtet hat er der Welt ein großes Vermächtnis hinterlassen. Denn er schaute dahin, wo die Welt – geblendet von großen medialen Ereignissen – nicht hinblickte. Stattdessen begleitete er den politischen Aktivisten Rudi Dutschke durch Prag und fotografierte dort immer wieder Menschen, die aufgrund der damals neu gewonnenen Pressefreiheit in Tschechien, die Zeitung auf den Straßen lasen. In einer Fotoreportage berichtete er über die neue Freiheit der geschiedenen Frau in Deutschland, indem er diese jedoch nicht sexualisiert oder leicht bekleidet darstellte, sondern in ihrer Freizeit, in ihrem Alltag, mit Kindern zeigte – ohne einen Ehemann, der ihr die Lebensweise vorschrieb. Robert Lebeck war dabei, als Robert F. Kennedy begraben wurde – und damit auch die Hoffnung der US-amerikanischen Studentenbewegung, den Vietnam-Krieg zu beenden. Zum 30. Geburtstag der Käferstadt reiste Lebeck nach Wolfsburg, fotografierte die Menschen in ihrem Alltag, wie etwa im Garten, im Schwimmbad, bei einer Hochzeit oder beim Feiern im Schützenverein. Die Menschen auf den Fotografien scheinen dermaßen echt, sodass erst im letzten Saal auffällt, dass es sich bisher ausschließlich um Aufnahmen in Schwarzweiß gehandelt hat. Farbenintensiv dokumentiert Lebeck hingegen den nordirischen Winter, den Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten.
Einblick in die Arbeit eines Fotojournalisten
Von den 110 Fotografien, welche vom Kunstmuseum Wolfsburg und dem Institut für Zeitgeschichte und Stadtpräsentation der Stadt Wolfsburg für die Ausstellung sorgfältig ausgesucht wurden, waren lediglich 19 bereits im „Stern“ veröffentlicht worden. Die Ausstellung schafft nicht nur Verständnis für eine Epoche, die bis heute als Mythos gilt, sondern ermöglicht einen hochinteressanten Einblick in die Arbeit eines Fotojournalisten.
Infobox
Ausstellungszeitraum:
04.03. – 23.09.2018
Katalog zur Ausstellung:
Herausgegeben von Dr. Ralf Beil (Kunstmuseum) und Dr. Alexander Kraus (Institut für Zeitgeschichte und Stadtpräsentation), Gestaltung: Cordula Lebeck, Steidl Verlag Göttingen
Hardcover, 320 Seiten, 226 Abbildungen, deutsche und englische Ausgabe, 38,00 € im Museumshop