Im Laufe des Jahres 1994 reiste Willi Lemke nach Sao Paulo. Die Entdeckung, die Bremens damaliger Manager dort machte, sollte ein Jahr später zum Siegeszug durch die Fußball-Bundesliga ansetzen. Gemeint ist allerdings nicht Innenverteidiger Junior Baiano, dessen kurzes Gastspiel an der Weser mit einem Faustschlag gegen Leverkusens Niko Kovac (heute Bayern-Trainer) unrühmlich endete, sondern eine andere Beobachtung Lemkes in Brasilien: 22 Kinder hatten die Profis beim Einlaufen ins Stadion von Sao Paulo begleitet. Der Werder-Macher griff diese in Deutschland noch unbekannte Idee auf, mittlerweile gehört sie zum Liga-Alltag wie Bratwurst, Bier und die Vereinshymne. Auch beim VfL Wolfsburg.
Den Profis einmal ganz nah kommen
Eine „emotionale Bindung“ an den Verein, so Roland Wolff, solle das Einlaufkinder-Konzept erzeugen. Der Leiter der VfL-Clubs, die sich vom jüngsten Anhänger bis zum Teilnehmer am WölfeClub 55plus-Programm um alle Altersklassen kümmern, betont zugleich: „Wir freuen uns, den Kindern die Möglichkeit zu geben, den Bundesliga-Stars ganz nah zu kommen und vor so vielen Fans in die Volkswagen Arena einzulaufen.“ Dort erwartet die Steppkes, Hand in Hand mit ihren Fußball-Idolen, eine einzigartige Mischung aus gebannter Erwartung und brodelnder Vorfreude. Kurzum: ein großes Abenteuer. Das von Viktoria Litzius beginnt am 16. März 2019 um 14.30 Uhr. Eine Stunde noch bis zum VfL-Heimspiel gegen Fortuna Düsseldorf. „Ich bin gar nicht aufgeregt“, gibt die siebenjährige Gamsenerin zu Protokoll. Gemeinsam mit den anderen Kids wird sie von Wolff sowie seinen Mitstreitern Ines Buerke und Jonas Garzke in Zweier-Reihen in die Katakomben geführt. Während Viktoria später Schiedsrichter Bastian Dankert aufs Spielfeld begleiten soll, werden die Nachwuchs-Kicker vom VfL-Partnerverein BSC Acosta und vom TSV Kromsdorf mit den 22 Profis einlaufen. Ein Abenteuer, das im Vorfeld übrigens reichlich Geduld erfordert. „Eineinhalb Jahre beträgt unsere Warteliste derzeit“, verrät Buerke. Doch das Warten lohnt sich, schnell kommt es im Stadion-Inneren zur ersten Tuchfühlung mit den Stars. Ein flüchtiger Blick aus den Augenwinkeln in die Gästekabine: Die Fortunen-Spieler präparieren sich fürs Warmmachen. Wenige Meter weiter steht Düsseldorfs Chefcoach Friedhelm Funkel plaudernd im Gang. Zeit zum Staunen bleibt dem Nachwuchs nicht, der Zeitplan ist straff, Trikots, Hosen und Stutzen liegen schon bereit. Beim Anziehen erinnert vieles an einen Ameisenhaufen. Kein Wunder, 25 Kinder, die ihrem großen Auftritt entgegenfiebern, wie soll’s anders sein. Viel Gewusel, Stimmengewirr. Humorvoll und locker versucht Buerke, ihnen die Anspannung zu nehmen, streut beim Verteilen der Klamotten die eine oder andere Benimmregel ein („Dankeschön heißt das, habe ich früher gelernt“). Viktoria braucht keine Ermahnung, routiniert schlüpft die Zweitklässlerin in ihre Ausrüstung. „Ich habe das ja auch schon mal gemacht“, erklärt sie. Anfang August im Testspiel gegen den SSC Neapel war das. Für die Düsseldorf-Partie hat sich die Siebenjährige über den WölfiClub beworben. Mit Erfolg. „Ich will auch mal Fußball spielen“, erklärt sie. Und: „Der VfL wird gewinnen.“
Die heiße Phase beginnt
Noch 30 Minuten bis zum Anpfiff. In der Mixed Zone, wo die Journalisten nach dem Spiel ihre Interviews führen werden, wird das Gruppenfoto geknipst. Langsam wird’s ernst. Viktoria und die beiden Begleiter der Schiri-Assistenten postieren sich am Ausgang des Spielertunnels, der Rest wartet mittendrin. „Mit einem Fuß an die Wand, damit die Spieler genug Platz haben“, mahnt Buerke. Als erster VfLer kehrt Keeper Koen Casteels vom Aufwärmen zurück, klatscht mit den Kids ab. „Die Torwarthandschuhe fühlen sich toll an“, meint Viktoria. Nach und nach kommen alle Kicker vorbei, auch ihr Lieblingsspieler Renato Steffen. Der Schweizer legt sogar den Arm um sie. Ein glückseliges Lächeln. Die lautstärksten Reaktionen ruft aber jemand anderes hervor. „Wölfi! Wölfi!“, erklingt ein vielstimmiger Kinderchor, als das VfL-Maskottchen um die Ecke biegt. Noch fünf Minuten. Die Profis strömen in den Spielertunnel, ernten ehrfürchtige Blicke. „Wenn wir den Kindern in die Augen schauen, sind sie immer sehr glücklich und auch ein bisschen ängstlich“, sagt VfL-Kapitän Josuha Guilavogui. „Wir spielen dann etwas mit ihnen, um ihnen die Angst zu nehmen.“ Auch Referee Dankert und seine kleine Begleiterin finden schnell einen Draht zueinander. „Als ich ihm erzählt habe, dass ich Vicky genannt werde, hat er gesagt, dass seine Kinder gern die gleichnamige Fernsehserie gucken“, berichtet die Siebenjährige. Dann geht’s ganz fix. An Dankerts Seite marschiert Viktoria unter dem Jubel der 25.350 Zuschauer vorneweg. Sie schnappt sich das Spielgerät („Den Ball von der Schale zu nehmen, war das Allertollste, die anderen wollten das auch unbedingt machen!“). Ab auf den grünen Rasen. Ins weite Rund winken, umdrehen, erneut winken. Und dann schnurstracks zurück zum Spielertunnel. 20 Minuten später sitzt Viktoria bei Mutter Susanne auf der Tribüne. Das steht es noch 0:0, am Ende geht der Tipp der kleinen Gamsenerin auf, Wolfsburg siegt 5:2. Ein perfekter Abschluss für das Einlaufkind. Dieser Begriff wird übrigens seit 2006 im Duden gelistet. Und vielleicht nimmt die Sprach-Bibel irgendwann auch den Vorschlag von Bernd Michaelis auf. „Ich bin der Einlauf-Opa“, sagt der 72-Jährige schmunzelnd. Anfang März hatte der Fallersleber seinen großen Moment, durfte anlässlich des zehnjährigen Bestehens des WölfeClub 55plus neben VfL-Eigengewächs Maximilian Arnold die VW-Arena betreten. „Die Atmosphäre war unglaublich, 28.000 Zuschauer, die alle klatschen, einmalig“, schwärmt Michaelis. „Sowas erlebt man nie wieder.“ Dass diese außergewöhnliche Aktion ausgerechnet beim Heimspiel gegen Bremen stattfand, dürfte auch im Sinne Willi Lemkes gewesen sein. Und sie war ein weiterer Beweis dafür, dass dieses Konzept, egal ob für Einlaufkind oder Einlauf-Opa, vor allem eines ist: ein ganz großes Abenteuer.