Die Städtepartnerschaft zwischen Wolfsburg und Bielsko-Biała besteht seit 1998. Die Beziehungen dorthin gehen aber noch viel weiter zurück. Wolfsburg gilt als junge und bunte Stadt – schon früh wollte die hiesige Verwaltung und Politik nach dem politischen Umbruch der frühen Neunzigerjahre international Freundschaften schließen. Auch mit dem Land, in dem der Umbruch mit den Solidarność-Streiks begann: Polen. 

Der Wolfsburger Kommunalpolitiker Horst Weiß nahm sich dem Thema an, da er bereits durch seine Ehefrau Gisela Bezugspunkte zu Polen hatte. Bielsko-Biała geriet als ähnlich strukturierte Stadt mit Automobilindustrie ins Auge. Aus dem Interesse entstand unter Mithilfe und auf Wunsch der Landesregierung ein eingetragener Verein, den das Ehepaar gründete. Die Deutsch-Polnische Gesellschaft Wolfsburg-Gifhorn e.V., kurz DPG, existiert bis heute und widmet sich dem interkulturellen Austausch. 

Grazyna und Martin umarmen sich.
Grazyna und Martin umarmen sich. Foto: DPG Wolfsburg-Gifhorn e.V.

Spendenfahrt als jährliches Event 

Neben Veranstaltungen, wie beispielsweise Konzerten, war der DPG vor allem der soziale Austausch mit Polen sehr wichtig. Jedes Jahr führt die DPG seitdem eine Spendenfahrt nach Bielsko-Biała durch. In der Regel ging es zu der Einrichtung Katolicki Dom Opieki Józefów„, eine Betreuungs- und Pflegeeinrichtung für Senioren, alleinstehende Mütter sowie Kinder und Jugendliche. 

Seit 2019 bin nunmehr ich der Vorsitzende der DPG. Der Gründer und 1. Vorsitzende Horst Weiß verstarb leider im Jahr 2012. Er leitete die Organisation stets mit viel Herzblut und Leidenschaft. Über die Spendenfahrt hatte ich bereits einen Beitrag geschrieben. Dass die DPG auch Liebesgeschichten schreiben kann, zeigt dieser Beitrag über Grazyna und Martin. 

Eine internationale Liebe 

Grazyna und Martin habe ich flüchtig über Horst Weiß kennengelernt. Beide sind schon lange Mitglieder der DPG. Der plötzliche Tod von Horst hat Martin und mich zu Freunden werden lassen, da wir als jüngste Mitglieder des Vereins in den Vorstand gerückt sind. Martin wurde zudem Vorsitzender der Deutsch-Polnischen Gesellschaft. Aber das ist nicht der spannende Teil der Geschichte. Für die Lovestory lud ich beide zu meiner Familie nach Hause ein, da wir seit nunmehr zehn Jahren gut befreundet sind. Aus unserer Freundschaft wurde sogar noch mehr, denn für meine beiden Kinder sind sie Paten, was mich sehr freut. Bei gutem Wein, Bier aus dem Harz und Wraps zum Selberbelegen, erzählten mir beide ihre romantische Kennlern-Geschichte. 

Alles begann 2002 

Alles begann im August 2002 im St. Elisabeth-Heim, mitten in Wolfsburg. Dort standen ehemalige Zivi-Wohnungen im Keller zur Verfügung, die für kleines Geld vermietet wurden. Martin war wegen seines Polizei-Studiums in Wolfsburg, um in die Praxis reinzuschnuppern. Grazyna bekam mit Hilfe von Familie Weiß ein vierwöchiges Praktikum im St.-Elisabeth-Heim vermittelt. Sie arbeitete für die Einrichtung „Katolicki Dom Opieki Józefów“ in Bielsko-Biała. Internet gab es zwar schon, aber noch nicht mobil und noch nicht überall. So besuchten beide regelmäßig das Internet-Café im Heim, wo sich ihre Wege erstmals kreuzten. Grazyna sprach kein Deutsch. Als Fehlermeldungen auf dem Bildschirm erschienen, wandte sie sich ratlos an die Person nebenan. Martin konnte sofort helfen und so kamen sie auf Englisch ins Gespräch und lernten sich besser kennen. 

 

Wie es der Zufall so will, fing es in der darauffolgenden Nacht in Grazynas Zimmer an zu regnen. Von der Decke tropfte Wasser und sie musste umquartiert werden – direkt ins Nachbarzimmer von Martin. Als Nachbarn sahen sie sich nun öfter. Und schon am Tag nach dem Umzug stand Martin bei Grazyna auf der Station, um sie direkt zu fragen, wann sie denn Feierabend habe, um sie auszuführen. 

In Deutschland verliebt 

So vergingen die vier Wochen Praktikum wie im Flug und beide standen am Bus, der Grazyna zurück in die Heimat bringen sollte. „Ich glaube, ich habe mich verliebt“, hauchte Grazyna ihrem Martin zu. „Ich glaube, ich auch“, antwortete er. 

 

Die Busfahrt war schlimm für Grazyna. Sie machte sich viele Gedanken, wie es nun mit einer Fernbeziehung über 800 Kilometer weitergehen sollte. Den anderen Fahrgästen entgingen Grazynas Tränen nicht. Sie sammelten im Bus sogar Geld ein, um sie beim nächsten Pausen-Halt mit einem Plüschbären von der Tankstelle zu trösten. 

 

Die nächsten Tage und Wochen waren schwer. Persönliche Treffen und die Nähe des Anderen vermissten beide sehr. Im Oktober 2002 kam Grazyna für eine Woche wieder nach Deutschland. Die Busfahrt dauerte lange 15 Stunden, da sich der Bus aufgrund der damals noch obligatorischen Grenzkontrollen um fünf Stunden verspätete. Und das Handy von Grazyna funktionierte im Ausland nicht. Aber Martin wartete geduldig am Busbahnhof. So eine Busfahrt nach Deutschland war für Grazyna auch finanziell eine große Belastung und kostete sie ein ganzes Monatsgehalt. Sie musste sogar einen zweiten Job annehmen, um sich ihr Leben, ihr Studium und den Besuch bei Martin leisten zu können. 

 

Ihr gemeinsames Ziel war es, sich alle sechs bis acht Wochen zu sehen. Das klappte nicht immer, aber meistens. Denn auch Martin fuhr ab und zu nach Polen. So erstmals im Dezember 2002 bei Minustemperaturen um die 25 Grad. Rund um die Feiertage lernte er auch die Familie von Grazyna kennen. Den beiden war es offensichtlich mit der Liebe sehr ernst. 

 

Nach einem Jahr als Au-Pair in Peine und Celle wurde Grazyna der Liebe wegen 2005 in Wolfsburg sesshaft. Sie zogen zusammen, heirateten 2006 und wurden Eltern von zwei Kindern, die selbstverständlich beide Sprachen sprechen. Martin spricht fließend polnisch, Grazyna fließend deutsch. Sie fahren mehrmals im Jahr nach Bielsko-Biała, um Freunde und Familie zu besuchen, aber auch die Landschaft vor Ort zu genießen. Unsere Partnerstadt ist für beide eine zweite Heimat geworden.  

 

Und auch dem Kuscheltier von der Busfahrt geht es nach wie vor gut. Es hat einen Ehrenplatz im Hause Müller

Das Kuscheltier von der Tankstelle
Das Kuscheltier von der Tankstelle. Foto: DPG Wolfsburg-Gifhorn e.V.