Wolfsburg steht für Mobilität, für kurze Wege und ist eine junge, moderne Stadt, in der man schnell von A nach B kommt. Die Voraussetzung ist allerdings, dass man körperlich dazu in der Lage ist.  

Mit dem Rollstuhl durch die Vorsfelder Altstadt

Als ich Anfang Dreißig war, sagte mir ein Sportarzt aus Frankfurt am Main, dass ich aufgrund meiner Spondylolisthesis im unteren Lendenwirbelbereich mit 50 Jahren im Rollstuhl sitzen würde. Damals hatte ich große Schmerzen und glaubte ihm irgendwie. Als ich Jahre später mit dem Spitzensportler und Chiropraktor Sven Knipphals zusammenarbeitete gab es Entwarnung, da mir der ehemals schnellste Wolf des VfL Wolfsburg sehr gut erklärte, dass mein Wirbelgleiten nur im 1. Grad vorliegt, zwar unheilbar ist, aber mit Muskelaufbau kompensiert werden kann. Nun durfte ich in den Rollstuhl schlüpfen und Wolfsburg aus einer anderen Perspektive entdecken. 

Kopfsteinpflaster

Für den Selbsttest verabrede ich mich mit Alexander Czauderna, der seit seiner Geburt an infantile Zerebralparese leidet und im Rollstuhl sitzt. Bei der Erkrankung handelt es sich um Symptome mit Bewegungsstörungen und Muskelsteife, die Alexander teilweise mit einem Gegengift behandeln muss, um die Schmerzen zu lindern. Die Ursache dafür ist eine Fehlbildung des Gehirns, die vor bzw. während der Geburt entstehen kann.  

Wir verabreden uns in der Eberstadt, da dort die Rahmenbedingungen besonders schwierig sind, um sich mit dem Rollstuhl fortzubewegen. Den Rollstuhl leihe ich mir für diesen Zweck vom Sanitätshaus Bode aus. Wir beginnen an der Lange Straße und biegen rechts in die Meinstraße ein. Die Straße ist nicht gut befahrbar und der Gehweg ist sehr schmal sowie abschüssig. Ich drifte permanent zur Straßenseite und muss teilweise auf die Autospur ausweichen, um die parkenden Fahrzeuge zu umkurven. Alexander Czauderna fährt einen Rollstuhl, der ihm bei Steigungen unterstützt und ihn mit Kipprädern schützt, sollte er mal nach hinten umfallen. Mein Modell kann das nicht und ich erkenne sehr schnell, dass meine Fortbewegung dadurch extrem schwerfällig und gefährlich ist, insbesondere wenn ich versuche auf den Gehweg zu rollen. Auf Kopfsteinpflaster ist die Überquerung besonders schwer. Wir fahren wieder in die Lange Straße damit ich nachempfinden kann, wie er seinen Bankgeschäften nachgehen kann. Die Passagen zwischen den Parkplätzen und der Außengastronomie kommen nicht nur mir sehr schmal vor. „Es kann schon mal passieren, dass die Autotür direkt vor mir geöffnet wird“, erklärt Alexander die Tücken seines Alltags. 

Ingo Bartels im Rollstuhl
Ingo Bartels im Selbstexperiment. Foto: FLOW WOLF

Ohne Rampe geht es nicht

Bei der Bank vor Ort müssen wir zuerst durch den Hinterhof, da der Haupteingang nicht behindertengerecht ist. Die Rampe lässt sich einfach passieren, nach dem Öffnen der Automatiktür über den Schalter geht es allerdings für meinen Eindruck zu eng durch die Türrahmen. Für den geübten Alexander jedoch kein Problem, hat er sich daran gewöhnen müssen, dass es für ihn meist umständlich bis unmöglich ist, ein Gebäude alleine zu befahren. Am Geldautomaten stelle ich fest, dass ich aufgrund meiner Größe keine Probleme habe, Geld abzuheben. Allerdings wäre eine kleinere Person oder eine Person mit Spastiken stark eingeschränkt, um außerhalb der Öffnungszeiten den Automaten zu bedienen. Weiter geht es in Richtung Vorsfelder Innenstadt, da mir Alexander zeigen möchte, wo es schon gute Ansätze aber auch Verbesserungsbedarf gibt. Beim örtlichen Bäcker ist zwar eine Rampe, aber „es ist derzeit ein Einbahnstraßenprinzip und der Ausgang ist nicht behindertengerecht“, erklärt mir der passionierte Fotograf, der gerne den ÖPNV fotografiert und auf Instagram knapp 2.000 Abonnenten hat. Auf dem Weg entlang an der Probstei in Richtung Wolfsburger Straße steht auch schon mal eine Laterne im Weg an der engsten Stelle des Fußgängerweges. Normalerweise würde mich das nicht stören, aber mit meinem Rollstuhl komme ich nur schwer vorbei und bin extrem in Schräglage in Richtung Fahrbahn. Ein bisschen rollen wir die Straße weiter und haben das Therapiezentrum vor Augen. Dort geht Alexander regelmäßig zur Physiotherapie. Er kommt die gepflasterte Rampe sehr gut hoch, die Tür öffnet sich allerdings nicht automatisch, sondern muss von ihm manuell aufgedrückt werden. „Beim Herausgehen geht es nicht ohne Hilfe“, sagt mir Alexander und hofft, dass behindertengerechte Ein- und Ausgänge stärker durchdacht werden, damit er barrierefrei seinen Alltag bestreiten kann. Durchdacht ist der Zutritt zur Apotheke an der Amtsstraße. Völlig unscheinbar und auf Kniehöhe befindet sich eine Klingel. „Mit dem Rollstuhl schaffe ich eine drei bis fünf Zentimeter hohe Kante hochzufahren“, erklärt mir der gebürtige Wolfenbüttler, der in Weyhausen im Landkreis Gifhorn aufwuchs und jetzt in Vorsfelde lebt. Seine Wohnung befindet sich im ersten Stock in einem Mietshaus ohne Fahrstuhl. Um in die Wohnung zu gelangen, stellt er seinen Rollstuhl im Flur ab und zieht sich mit Muskelkraft die Treppen hoch. In der Wohnung wartet dann sein Rollstuhl mit Stehfunktion, damit er sich in seinen vier Wänden bewegen kann. Es wird mir bewusst, wie mobil und sorgenfrei ich mich jede Minute bewegen kann und wünsche mir, dass es trotz der wenigen Rollstuhlfahrer:innen in Wolfsburg nicht an barrierefreien Zugängen fehlt, denn jede:r Wolfsburger Bürger:in sollte die Möglichkeit haben, die Stadt in vollen Zügen zu genießen. IB 

Alexander Czauderna mit Ingo Bartels
Mit Rollstuhl im Alltag. Foto: FLOW WOLF