Der Bildhauer Rainer Scheer hat sich im Heinenkamp II sein ideales Atelier geschaffen. Mitten im Industriegebiet ist so ein Ort entstanden, der alle Ansprüche an kreatives Arbeiten mit Stein erfüllt.
Versteckt, aber perfekt ausgestattet
„Sie haben das Ziel erreicht. Das Ziel liegt auf der linken Seite“ verkündet das Navi an einem neblig-trüben Nachmittag. Zwar nicht an der angesagten Stelle, aber ein paar Meter weiter liegt dann tatsächlich das Grundstück von Bildhauer Rainer Scheer. Auf einmal sind auch die Kuben sichtbar, deren Fassaden zwar aus verschiedenen Materialien sind, die aber eindeutig zusammen gehören. Dem hellen Steinweg folgend gelangt man auf eine kleine Piazza inmitten der Gebäude. Dieses Ensemble wird eingerahmt von sorgfältig angelegten und bepflanzten Hügeln, die zum Schlendern und Verweilen einladen – und auch Ausstellungsfläche sind. Sozusagen ein Freilicht-Museum. Der Blick geht hinüber zum Wald, zu dieser Jahreszeit eher lichtes Gebüsch, aber im Sommer und Frühjahr bestimmt eine grüne Oase. Genau diesen Eindruck wollte Rainer Scheer vermitteln – ein bisschen Urlaub vom Alltag sollen die Leute erleben, die ihn hier besuchen, um an einem Workshop teilzunehmen oder ein Werkstück in Auftrag zu geben. Obwohl das Grundstück am Rand des Industriegebiets Heinenkamp liegt, kommen doch öfters Leute vorbei, die einfach wissen möchten, was das Ensemble hier darstellt. Manche denken, es seien Ferienhäuser oder Wohnungen. Das ist nicht der Fall, die Kuben beherbergen zwei Ateliers, ein Lager und eine Galerie.
Diesen Flecken Erde hat Rainer Scheer nach seinen Wünschen genau so gestaltet, wie er es haben wollte. Dafür hat er mit einem Architekten zusammen gearbeitet, der seine Ideen von den Kuben auf statisch sicheren Boden gestellt hat. Auf dem Gelände selbst gibt es nichts, was nicht seinen Vorstellungen entspricht. Vom Ausheben der Baugruben und dem Aufschütten der Hügellandschaft, deren Bepflanzung bis zum Anbringen der Fassaden an den Gebäuden: er hat einfach alles selbst gemacht. Den Stolz darauf merkt man ihm an, ebenso wie seine Dankbarkeit für die tatkräftige Unterstützung, die er während der Bauphase von Freunden und von Seiten der Stadt Wolfsburg bekam.
Wie alles begann
Zur Bildhauerei kam Rainer Scheer aus dem Bedürfnis heraus, (Dinge) selbst gestalten zu wollen. Zunächst machte er eine Lehre als Steinmetz, im Anschluss daran folgte der Gesellenbrief als Steinbildhauer. Weiter ging es an der Fachoberschule für Gestaltung in Braunschweig. Während dieser Zeit richtete sich Rainer schon eine eigene Werkstatt ein und nahm an Wettbewerben teil. Nach dem Abschluss der Fachoberschule stieg er voll in die Arbeit als freier Steinmetz und Bildhauer ein. Seit 27 Jahren gestaltet er neben seinen freien, künstlerischen Werken Auftragsarbeiten aller Art wie Skulpturen, Wappen und auch Gedenksteine. Einmal im Jahr organisiert er eine Jahresausstellung mit eigenen Werken. Darüber hinaus beteiligt er sich an Aktionen der künstlerischen Community, wie dem offenen Atelier.
Im Gespräch wird schnell klar, dass sich der Gestaltungswille nicht auf den Stein beschränkt. Rainer Scheer versteht Gestaltung auch als Möglichkeit, die Welt an sich zu verstehen. Dabei hat er keine thematischen Berührungsängste: Architektur, Philosophie und Psychologie oder auch wirtschaftliche Themen und Marketing. Nicht zu vergessen den Computer und das Internet – er programmiert von Anfang an seine Webseiten selber.
In der Bildhauerei kann man für den Gestaltungswillen eine Metapher sehen, sie erweitert das Ganze noch um die Komponenten Kreativität und Flexibilität. Denn: Ein Bildhauer kann seine Arbeiten nicht zu 100 % planen. Zwar liest er den Stein und arbeitet die Skulptur entsprechend aus. Es kann aber immer sein, dass Unebenheiten oder Unregelmäßigkeiten im Stein erst während der Arbeit zu sehen sind – und dann ein völlig anderes Werkstück entsteht als gedacht. Darauf muss man sich einlassen können, mit offenem Blick auf den Stein (oder das Leben) schauen und flexibel darauf reagieren.
Sich kreativ ausleben
Wer schon immer einmal selber Stein bearbeiten wollte, kann bei Rainer Scheer einen Workshop besuchen. Hier öffnet er sein Atelier, um die Teilnehmer an der Arbeitsweise eines Bildhauers teilhaben zu lassen und ihnen die Möglichkeit zu geben, selbst kreativ zu sein. Seit 15 Jahren kommen so Menschen aus ganz Deutschland, jeden Alters und jeglicher Motivation in seine Werkstatt. Neben den Workshops für Erwachsene bietet er auch Workshops für Kinder ab 8 Jahren an. Für die Workshops braucht man keinerlei Vorkenntnisse, eigentlich auch keine fertige Idee oder Vorstellung, was man machen möchte. Auf dem Gelände gibt es jede Menge Inspiration für die bildhauerische Arbeit. Neben den vielen Skulpturen, die Rainer Scheer geschaffen hat, kann der Blick weit schweifen und die direkt ans Grundstück anschließende Natur bietet zu jeder Jahreszeit Anregung und Inspiration.
Neben geeigneter (Arbeits-)Kleidung (es staubt zuweilen recht ordentlich) und festen Schuhen brauchen die Teilnehmer nur die Voraussetzung mitbringen, sich auf dieses Erlebnis einzulassen. Den Wunsch, kreativ zu arbeiten und im Werden zu sehen, was alles sein kann. Gearbeitet wird mit Thüster Kalkstein, der sich relativ leicht bearbeiten lässt und gut für den Außenbereich geeignet ist. Rainer Scheer sucht für die Workshops Steine aus, die die Phantasie anregen. Er liest den Stein und bespricht, je nach Wunsch, mit den Teilnehmern gemeinsam, was daraus entstehen könnte. Wie dann die Skulptur aus dem Stein geholt wird, ergibt sich. Dafür stehen verschiedene Werkzeuge zur Steinbearbeitung zur Verfügung. Neben professionellen Steinmetz-Werkzeugen kommen auch mal eine handelsübliche Holzraspel aus dem Baumarkt und mit Druckluft betriebene Hämmer zum Einsatz, deren verschiedene Aufsätze die spannendsten Muster in den Stein treiben. Auch beim Bearbeiten des Steins selbst bietet der Bildhauer den Teilnehmern seine Unterstützung an – wenn sie gewünscht ist. Und dann entsteht außer dem selbstgemachten Werkstück für Garten oder Haus oft noch etwas ganz anderes: das Arbeiten im Flow, das völlige Aufgehen in der Tätigkeit, bei dem man alles um sich herum vergisst. Dafür wurde dieses Gelände gemacht, dieser Raum geschaffen – als Ort für eine kreative Auszeit.