Vorbei an Wiesen, durch den Kreisel, über die Brücke. Es ist nur ein Kilometer. Ein Kilometer, der Wolfsburgs Insel mit ihren gelben Häusern von Sülfeld trennt. Und doch ist sie gefühlt ganz weit weg von allem: die Sülfelder Schleusensiedlung.
Geschichten über Abenteuer und Freiheit
Steffen Garbisch hat die ersten 22 Jahre seines Lebens dort verbracht, zwischen Landstraße und Kanal, Frachtschiffen und Werksverkehr. Wenn Garbisch von seiner Kindheit erzählt, dann klingt es nach Abenteuer und Freiheit: Buden bauen, angeln, Speerwerfen, Indianerspiele im grünen Pappelwald mit Weltkriegsbunker, Gärten mit Tauben- und Hühnerställen. „Wir waren zehn Kinder und wir durften überall spielen.” Nur die Schleuse sei Tabu gewesen – und damit besonders reizvoll. An manchen Tagen sei er mit anderen Kindern auf wartende Schiffe gesprungen und mit nach oben gefahren, wenn die Schleusenkammer vollief. „Manchmal haben wir im Schleusenbecken geangelt. Die Ausbeute war oft gut. Wir sind mit haufenweise Barschen nach Hause gekommen.” In Erinnerung sind ihm auch die Fahrten zur Schule geblieben. Einen Schulbus, der an der Schleusensiedlung hielt, gab es nicht. Stattdessen: ein Taxi, mit dem Garbisch jeden Tag zur Schule fahren durfte. „Der Sonderstatus unter den Mitschülern war uns sicher”, sagt der heute 32-Jährige. “In der Schleusensiedlung zu leben – das war aber so lange toll, wie man Buden gebaut hat. Als ich meine erste Freundin mit dem Bollerwagen vom Bus in Sülfeld abholen musste, da wurde es frustrierend.”
Die Schleusensiedlung früher und heute
Erbaut wurde die Schleusensiedlung in den Jahren 1934 bis 1937, in der Zeit, als die Sülfelder Doppelschleuse entstand: zwölf Siedlungshäuser mit riesigen Gärten und jeweils knapp 90 Quadratmetern Wohnfläche für die Schleusenarbeiter und ihre Familien. Heute – in Zeiten der Immobilienknappheit – stehen drei der Häuser leer. Und obwohl sich der Mittellandkanal zur wichtigsten West-Ost-Verbindung im europäischen Wasserstraßennetz entwickelt hat, kümmern sich nur noch fünf Angestellte um den Betrieb der Schleuse.
Gegensätze prägen die Schleuse
Es sind Gegensätze, die die Schleuse prägen. „Es kommen viel mehr Schiffe und Züge als früher, und auch der Verkehr auf der Gifhorner Straße hat stark zugenommen”, sagt Sven Röhrs, der seit 1995 in der Schleusensiedlung wohnt und auf der Schleuse als Schleusenmeister arbeitet. Im Schichtbetrieb übernimmt er das, was in den 80er-Jahren drei Arbeiter erledigten: den Funkverkehr abwickeln, die Schleusenkammern bedienen und die Schiffsdaten abfragen. Röhrs sitzt dafür vor einer Wand aus Monitoren. Die tonnenschweren Schleusentore öffnet er mit einem Mausklick. „Und seit die alten Bäume bei dem Bau der neuen Schleusenkammer gefallen sind, kommen auch mehr Leute, um sich einmal die Schleuse anzugucken”, sagt Röhrs. „Weil sie jetzt von der Straße aus zu sehen ist.” Gleichzeitig sei “das Zwischenmenschliche” weniger geworden. Früher hätten die Nachbarn auch mal bei einem Bier am Gartenzaun zusammengestanden. „Runde Geburtstage wurden mit der ganzen Gemeinschaft gefeiert. Das Heizöl haben wir gemeinsam bestellt. Heute ist man mehr für sich.” Aber das, so Röhrs, „ist ja Zeitgeist”. Er findet: Vieles in der Schleusensiedlung hat sich zum Negativen entwickelt. Es ist laut geworden – und gleichzeitig still. Wer heute aus Sülfeld in die Schleusensiedlung fährt – vorbei an Wiesen, durch den Kreisel, über die Brücke – der sieht dort keine Kinder und hört keinen Kinderlärm. Er hört die Landstraße und den Kanal, Frachtschiffe, Züge und Werksverkehr. Die Schleusensiedlung ist immer noch eine Insel. Wahrscheinlich mehr als je zuvor.